Samstag, 7. Juni 2008

Auswertung der letzten Sitzung

Da nicht wenige Teilnehmer das letzte mal nicht anwesend waren, will ich eine Zusammenfassung geben, damit ihr in etwa eine Vorstellung bekommt, wie wir im Seminar mit den Texten arbeiten. Geht bei eurer Vorbereitung ebenso systematisch vor. Jacob hatte überlegt, ob er für uns ein kurzes Resümee schreibt, aber falls er zu viel zu tun hat, werde ich etwas aushelfen.
Wir haben uns im Seminar auf die Abschnitte 1 und 2 konzentriert und uns an einem "close reading" versucht, d.h. den Text (öko-)literaturkritisch analysiert. Hier ein paar Punkte :

Zum Titel :

- Der Titel ist ein Aufruf, er spricht den Leser direkt an und teilt ihm die Intention des Werkes mit.
- Er ruft zu einem Aufwachen, d.h. zu einem Bewußtwerdungsprozess oder Bewußtseinswandel.
- Die "Holzfäller" als Adressaten sind offensichtlich keine Berufsbezeichnung, sondern stehen für einen bestimmten menschlichen Einstellungs- und Verhaltenstypus gegenüber "Bäumen" - mithin kann also der "Holzfäller" in jedem von uns gemeint sein.

Abschnitt 1

Ort :

- Großstadt - wird mit dem prägnanten Bild 'Hochhäuser und Betonplatten' (高楼和水泥预制板) umrissen
- In ihrer Struktur liegt begründet, dass sie die Menschen und die Natur kompartiert - die Menschen werden untereinander räumlich isoliert. Ebenso verhält es sich zwischen Mensch und Natur. Letztere ist nur noch etwas sehr entfernt Wahrgenommenes (听不见鸟叫看不见树林).
- Das Bild von den Kindern auf einem 2 Quadratmeter großer Balkon verdeutlicht den einängenden und isolierenden Charakter dieses "Lebensraumes".

Zeit :

- Frühling - kurz nach dem Baumpflanzfest (植树节 - 12.3. gibt es in China seit 1979)
- Gibt den Menschen kurzzeitig Freude

Menschen :

- Die Menschen sind so wie ihre traurige Umgebung : der Mechanismus der Stadt und der Gewohnheit hat sie faul gemacht, ihre Trennung von der Natur fällt ihnen nicht mehr auf. Ihre Isoliertheit und Technologien, wie Luftreiniger, lassen sie aphatisch und unrezeptiv (麻木) werden - so liegt etwa saubere Luft im Zuständigkeitsbereich der Technik nicht in dem der Menschen selbst.
- Beim Baumpflanzfest pflanzen viele Leute keine Bäume an, sondern sind damit beschäftigt, sich und ihre Freunde vor Bäumen zu fotografieren, wobei sie die Erde um die frisch gepflanzten Bäume zertrampeln. Sie interessieren sich nicht für die Bäume, sondern nur für sich selbst.
- Eine Besondere "Gattung" unter den Menschen sind die Kinder : ihr Naturell (天性) steht für eine noch intakte Wahrnehmung der Welt. Sie leiden unter der Isoliertheit und sehnen sich nach den Bäumen ("die Natur da draußen"). Sie scheinen wie Opfer ihrer Umgebung, die ihnen verwehrt zu erkennen, dass es noch andere schöne Vögel außer Spatzen gibt.

Natur :

- Natur wird wie folgt bestimmt : "Natur kann nicht re-kreirt werden, was re-kreirt werden kann ist sicher nicht Natur" (大自然是不能再造的,可以再造的就一定不是大自然).
-> Spielt bei dieser Bestimmung der Natur auch eine traditionelle Vorstellung mit hinein ? (自然 - von selbst so sein. 为 (Eingreifen) vs. 无为 (Nicht-Eingreifen))
- die Natur wird von der Isolation genauso gepeinigt wie die Menschen

Bäume :
- An ihnen wird die Naturvorstellung konkret gemacht - sie vegetieren eingepfercht in den Häuserschluchten, so wie die Kinder auf dem Balkon.
- Bäume geben den Menschen etwas "Grün".
- Von den gepflanzten Bäumen überlebt nur ein Drittel, weil sich keiner um sie kümmert.

"Solange die Menschen ihr Leben nicht mit dem der Bäume verbinden, sondern [die Bäume] nur als eine ihnen zugeteilte Arbeit erachten, wird der Abstand und die Isolation zwischen Menschen und Bäumen nicht verschwinden."
(当人类在没有把自己的生命和树木的生命联系在一起之前,而仅仅把植树当作是摊派的任务时,人与树之间的距离和隔膜是无法消除的。)

Abschnitt 2

- schließt inhaltlich unmittelbar an Abschnitt 1 an

zur Zeit :

- Der Frühling als zyklisch wiederkehrende Zeit des Erwachens und der Natur - das Bewußtsein davon ist aber nur als Erinnerung gegenwärtig. (Früher : Erwarten, Besingen und Erwandern des Frühlings als Freude der Menschen)

zur Natur :

- schenkt den Menschen "Grün"
- Natur als Wildnis (旷野 - schenkt Lebensfreude) und Land (田园 - schenkt Hoffnung ) - Gegensatz zu Stadt

zum Mensch :

- Beethoven als Beispiel eines Erwachsenen mit intakter Naturwahrnehmung und Wertschätzung : "Ich liebe einen Baum mehr als einen Menschen" (我爱一棵树甚于爱一个人). Hat ein Ich-Du-Verhältnis zu den einzelnen Naturdingen.
- Vitalität der Natur kommt in den Werken (hier : Musik) zum Ausdruck, wenn ein Mensch empfänglich für sie ist.

zur Sprache :

- "unter der Sonne" und "unter dem Mond" (阳光下 / 月光下)
- Das Erlebnis des Frühlings und des Baumflanzfestes bietet potentiell Anlaß zur Bewußtwerdung des (Großstadt-)Menschen aufgrund der heutigen Abwesenheit der mit ihm verbundenen Freuden (Singen, Spazierengehen...)
- Diese Entdeckung oder Bewußtseinswandlung wird durch eine fehlende Zuschreibung seines Subjektes im Leser selbst vollzogen (也许... 忽然发现,那种朴实的对春... 已成为遥远的过去。)

Im Deutschen würden wir sagen : "stellt man fest", "stellen die Menschen fest" oder "stellt X fest". Dabei vollzieht sich der Vorgang des Entdeckens an einem vorgestellten Subjekt, während im chinesischen Satz "Entdecken" vom Leser durch sein Lesen selbst vollzogen wird. Diese Ausdrucksform ist im Chinesischen überhaupt nicht ungewöhnlich und man ergänzt beim Übersetzten ganz selbstverständlich ein entsprechendes Subjekt. Dennoch entfaltet diese sprachliche Option eine höhere subjektive Suggestivwirkung auf den Leser - Aussagesätzen erhalten dadurch einen imperativen Charakter. Im klassischen Chinesisch tritt dies noch deutlicher zu Tage.

zur Abholzung :

- Warum wird das Problem der exzessiven Abholzung explizit China zugeschrieben (中国的滥伐之声) ? In China gibt es einen Teufelskreis der Umweltzerstörung : je ärmer, desto mehr Abholzung; je mehr Abholzung, desto ärmer (越穷越砍树,越砍树越穷). Armut ist ein allgemein bekanntes und von allen ernst genommenes nationales Problem. Umweltzerstörung wurde damals jedoch noch kaum als ein "Problem" wahrgenommen. Der Autor versucht aufzuzeigen, das Umweltzerstörung ein genauso schweres nationales Problem ist und im direkten Zusammenhang mit dem der Armut steht.
- Die Handlung des besinnungslosen Abrodens wird mit den ethischen Begriffen "gefühllos" (无情), "kalt" (冷酷) und "eigennützig" (自私) beschrieben. Sie sind Attribute, mit denen eigentlich negatives Verhalten gegenüber von Mitmenschen kritisiert wird. Schreibt man sie einem Handelnden zu, gilt er als asozial und gesellschaftlich disqualifiziert.

Zusammenfassend läßt sich konstatieren :

- Menschen werden in ihrem Charakter durch den Ort geprägt.
- zwei Charaktertypen : 1. der natur-unsensible Großstadtmensch, 2. der natürliche (oder der Natur nahestehende) Mensch : die Kinder, Beethoven
- Natur ist eine "gebende", mithin "sich mit-teilende" Instanz, auf die der kritisierte Menschentypus ("aphatische Großstädter") aber nicht antwortet. Er nimmt schweigend das Gegebene hin (...oder reagiert gar mit Raubbau und Zerstörung).
- Naturzerstörung (hier : Waldrodung) wird als moralisch verwerfliche Handlung und nationales Problem gekennzeichnet.

1 Kommentar:

Jacob hat gesagt…

Wow!
Ich hoffe, du hättest das gleiche nicht von mir erwartet, Lars... Das hätte mein Zeitkonto etwas überfordert. Aber hey, perfekte Wiedergabe unserer Sitzung von letzter Woche!
Noch eine Frage zur Tiefenökologie: Gibt es einen tiefenökologischen / vergleichbaren Ansatz in China?? (Das würde mich umhauen, ehrlich gesagt.) Mit der Mehrzahl der genannten Charakteristika kann ich mitgehen...